Schöpfung

 

Macros öffnete die Augen.

Der Zauberer war innerhalb weniger Minuten, nachdem sie gemerkt hatten, daß sie in einer Zeitfalle gefangen waren, in eine Trance verfallen, und von da an hatte er sich nicht mehr bewegt. Pug und Tomas hatten ihn stundenlang beobachtet, bis es ihnen langweilig geworden war und sie ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zugewendet hatten. Sie hatten den Garten so gut es ging erforschen wollen, doch da er fast nur fremdartige Pflanzen und Tiere beherbergte, war vieles von dem, was sie entdeckten, schwer zu verstehen. Es schien ihnen, als wären sie schon tagelang auf Erkundung gewesen, während der Zauberer sich nicht rührte, und schließlich fanden sie sich mit der Warterei ab.

»Ich habe über eine Lösung nachgedacht«, sagte Macros und reckte sich. »Wie lange war ich in Trance?«

Tomas, der neben ihm auf einem großen Felsen saß, erwiderte: »Ich schätze ungefähr eine Woche.«

Pug verließ die Stelle an Ryaths Seite, wo er etwas beobachtet hatte, und gesellte sich zu ihnen: »Es könnte auch länger gewesen sein. Man kann es kaum sagen.«

Macros blinzelte und stand auf. »Wenn man sich rückwärts durch die Zeit bewegt, ist Zeitmessung kaum von Nutzen, muß ich zugeben. Aber ich hatte keine Ahnung, daß ich so lange nachgesonnen habe.«

Pug sagte: »Ihr habt uns wenig darüber erzählt, was hier eigentlich los ist. Ich habe mehrmals versucht herauszubekommen, was uns zugestoßen ist, und ich habe kaum begriffen, wie diese Zeitfalle funktioniert.«

»Was habt Ihr über diese Falle erfahren?«

Pug runzelte die Stirn. »Es scheint so, als wäre der Zauber folgendermaßen angelegt: In einem Bereich um uns herum kehrt er die Zeit um. Solange wir uns in diesem Feld befinden, stehen wir unter seinem Einfluß und können nichts daran ändern. Wir werden mit dem Garten mitgerissen und schreiten gemächlich Schritt für Schritt in der Zeit zurück.« Aus seiner Stimme sprach deutlich seine Niedergeschlagenheit. »Macros, wir haben genug Obst und Nüsse, doch Ryath hat ebenfalls Hunger. Sie hat einiges von dem kleinen Wild hier ergattert, und sie hat sogar einige Nüsse gegessen, doch sie hält das nicht mehr lange aus. Innerhalb kürzester Zeit wird sie alles Wild gejagt haben, und dann wird sie uns verhungern.«

Macros sah zu der großen Drachendame hinüber, die am Boden lag und döste, um Kraft zu sparen. »Nun, dann müssen wir wohl mit allen Mitteln einen Weg finden, hier herauszukommen.«

»Nur, wie?« fragte Tomas.

»Es wird schwierig, doch ich schätze, Ihr beide werdet dazu fähig sein.« Dem Zauberer gelang ein Lächeln, und gleich kehrte etwas von dem Selbstvertrauen zurück, das er früher ausgestrahlt hatte. »Jede Falle hat irgendeine Schwäche. Selbst so etwas wie ein einfacher Stein, der von oben herunterfällt, hat seinen schwachen Punkt: er kann vorbeigehen. Und ich glaube, ich habe den schwachen Punkt dieser Falle entdeckt.«

Pug sagte: »Das wäre allerdings recht erquicklich. Ich habe mir schon ein Dutzend Möglichkeiten ausgedacht, doch dazu müßte man immer außerhalb des Feldes der Falle sein. Ryath wollte mich nach draußen bringen, doch das ist ihr nicht gelungen. Was sollen wir hier drinnen unternehmen, um wieder in die richtige Zeit zu fliehen. Ich kann mir jedenfalls nichts vorstellen.«

»Der Trick, mein lieber Pug, liegt woanders. Wir müssen uns nicht wieder nach vorn in die Zeit kämpfen, sondern unseren Weg zurück durch die Zeit beschleunigen. Wir müssen schneller und schneller reisen, in einer Geschwindigkeit, von der noch kein Mensch geträumt hat.«

Tomas fragte: »Und wo führt das hin? Wir bewegen uns doch immer weiter vom jetzigen Konflikt fort. Was gewinnen wir damit?«

»Denkt doch einmal nach, Milamber von der Versammlung«, sprach Macros Pug mit seinem Tsurani-Namen an. »Wenn wir weit genug zurückgehen ...«

Pug sagte einen Augenblick lang nichts, dann dämmerte es ihm. »Wir gehen zurück zum Anfang aller Zeit.«

»Und davor ... davor hatte die Zeit keine Bedeutung.«

Pug fragte: »Ist das überhaupt möglich?«

Macros zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber da mir nichts anderes einfällt, bin ich dazu entschlossen. Ich werde Eure Hilfe brauchen. Ich habe zwar das Wissen, doch mir fehlt die Macht.«

Pug nickte: »Sagt mir, was ich tun soll.«

Macros bedeutete ihm, daß er sich setzen sollte, und nahm ihm gegenüber Platz. Tomas stand hinter seinem Freund und beobachtete ihn interessiert. Macros streckte seine Hände aus und legte sie Pug auf den Kopf. »So gehe mein Wissen auf Euch über.«

Pug spürte, wie sich seine Gedanken mit Bildern füllten ...

 

... und das Universum, wie er es bisher gekannt hatte, erzitterte. Nur ein einziges Mal zuvor hat er dieses Gefühl des allumfassenden Bewußtseins erfahren: auf dem Turm der Prüfung, als er den Titel eines Erhabenen errang. Jetzt ist er ein soviel reiferer, soviel wissenderer Beobachter, und er versteht soviel mehr von dem, was er sieht: die Symmetrie, die Ordnung, die erstaunliche Herrlichkeit, die sich um ihn herum dreht, nach einem Plan konstruiert, den ganz zu verstehen seine Fähigkeiten der Wahrnehmung nicht zulassen. In Ehrfurcht steht er da.

Er läßt sein Bewußtsein umherwandern, und wieder erstaunen ihn die Wunder des Universums, welches ihn umgibt. Und wieder schwimmt er zwischen den Sternen, wieder nimmt er die magischen Kraftlinien wahr, die alle Dinge des Universums verbinden, und er sieht, wie etwas danach strebt, von einem anderen Universum in dieses einzudringen. Es ist etwas Verfaulendes, ein Geschwür, und es erschüttert die Ordnung von allem, was ist. Es ist eine Dunkelheit, die alles auslöscht. Es ist der Feind. Doch es ist schwach, und es ist vorsichtig. Er sinnt darüber nach, während es sich seinem Verstand entzieht. Er bewegt sich in der Zeit zurück.

Er beobachtet den Garten. Er sieht sich selbst vor dem Zauberer sitzen, und sein Jugendfreund steht hinter ihm. Er weiß, was er zu tun hat. Die Zeit im Garten fließt erhaben dahin, schwimmt in einem Rhythmus gleich dem Puls der Zeit in dem Raum, der ihn umgibt, doch in die entgegengesetzte Richtung; für jede vergehende Sekunde geht er im Garten eine Sekunde zurück.

Er greift zu, und sein Geist nimmt den Schlüssel zum Fluß der Zeit. Diese Berührung ist für ihn so gegenständlich, als ergreife seine Hand einen Stein. Er streichelt ihn, und er fühlt den Herzschlag des Universums, das Geheimnis dieser vorgetäuschten Dimension. Er sieht, und er weiß. Er versteht diesen Fluß, er dreht den Schlüssel herum, und jetzt vergehen für jede Sekunde der Zeit im Universum zwei Sekunden im Garten. Er verspürt eine stille Freude, weil er etwas vollbracht hat, von dem er glaubte, es läge jenseits aller Möglichkeiten eines sterblichen Zauberers. Er vergißt seinen Stolz und konzentriert sich auf die Aufgabe, die vor ihm hegt. Wieder verändert er den Fluß der Zeit, und für jede wirkliche Sekunde vergehen für ihn, Tomas und Macros nun vier.

Wieder und wieder dreht er den Schlüssel herum, und sie fliegen für jede Stunde im Universum mehr als einen Tag in der Zeit zurück, dann mehr als zwei Tage, dann vier, dann mehr als eine Woche. Dreimal mehr gedreht, für jede wirkliche Stunde vergeht mehr als ein Monat. Und wieder und wieder und wieder - ein Jahr für die Stunde. Er hält inne und schickt sein Bewußtsein voraus.

Sein Geist schwebt durch den Kosmos wie ein Adler auf seinen Schwingen, rauscht zwischen den Sternen hindurch wie der mächtige Raubvogel zwischen den Spitzen der Grauen Türme. Er erspäht den heißen, grünen Stern, der ihm so bekannt vorkommt, und für einen kurzen Moment versteht er. Er ist auf Kelewan, und er entdeckt das verlorene Wissen der Eldar. Sie haben sich mehr als ein Jahr in der Zeit zurückbewegt. In Gedankenschnelle bringt er sein Bewußtsein zu seinem Körper zurück.

Und wieder dreht er den Schlüssel herum; zwei Jahre zurück für jede Stunde, dann vier, acht, sechzehn. Erneut hält er inne und betrachtet das Universum.

Die Sterne ziehen ordentlich ihre Bahnen. Sie rauschen durch einen Kosmos, der so riesig ist, daß ihre rasende Geschwindigkeit wie ein Kriechen wirkt. Doch sie bewegen sich nach einem seltsamen Muster - umgekehrt, entgegengesetzt. Er denkt nach, und erneut dreht er den Schlüssel der Zeit. Nunmehr beherrscht er diese Kunst, und er besitzt Fähigkeiten, die selbst das ehrgeizigste und arroganteste Mitglied der Versammlung als Winzling dastehen lassen. Er ist sich jetzt seiner eigenen Natur bewußt - vielleicht mehr, als er geglaubt hatte - und bewegt den Schlüssel mit Leichtigkeit herum. Ein wilder Gedanke schießt ihm durch den Kopf: So bin ich den Göttern gleich! Dann erinnert er sich an die Jahre des Lernens, und eine Warnung überdeckt alles: Hüte dich vor dem Stolz! Vergiß nicht, du bist nur ein Sterblicher, und die oberste Pflicht ist der Dienst am Kaiserreich. Seine Lehrer in der Versammlung haben ihre Aufgabe zufriedenstellend erfüllt. Er ignoriert den Rausch der Macht, konzentriert sich wieder auf sein Tun, auf die Mitte seines Seins, und abermals dreht er den Schlüssel der Zeit herum. Ein Jahr vergeht für jede Sekunde im wirklichen Universum. Wieder und wieder setzt er seine Geschicklichkeit gegen die Zeitfalle des Feindes ein, beschleunigt die Zeit, entgegen allen Erwartungen derer, die die Falle gestellt haben. Eine Dekade für jede Sekunde, und er weiß, nun lebt er vor der Zeit seiner Geburt. Mit dem nächsten Atemzug erreicht er die Zeit, in der Herzog Borrics Großvater in Crydee einmarschiert ist. Er dreht den Schlüssel noch einmal, und nun hat das Königreich erst die Hälfte seiner späteren Größe, und die Besitztümer des Barons von Finstermoor bilden die westliche Grenze. Noch zweimal beschleunigt er den Ablauf der Zeit, und die Länder, die er aus seinem Leben kennt, sind kaum mehr als kleine Dörfer, von Menschen bevölkert, die einfacher sind als jene, die die Länder einst zu dem machen werden, was sie heute sind. Und wieder und wieder dreht er den Schlüssel.

Dann beginnt das Universum zu schwanken. Das Gebilde der Wirklichkeit zerreißt. Energien, deren Ursprung nicht zu ergründen sind, toben um ihn her, Gewalten jenseits seines Begriffsvermögens, und er - Pug öffnete die Augen. Er fühlte eine seltsame Verschiebung, und einen Augenblick lang verschwamm die Welt vor seinen Augen.

Tomas stellte sich neben ihn und fragte: »Alles in Ordnung mit dir?«

Pug blinzelte und antwortete: »Etwas da draußen hat sich ... verändert.«

Tomas sah nach oben. »Irgend etwas geht dort vor sich.« Macros betrachtete den Himmel. Alte Muster von Energien wirbelten wie wahnsinnig am Firmament, die Sterne nahmen schwankend ihren Lauf. »Wenn wir weiter zusehen, werden wir bald erkennen, wie sich die Dinge beruhigen. Wir sehen schließlich alles verkehrt herum, daran müßt Ihr denken.«

»Was sehen wir?«

Tomas antwortete: »Die Chaoskriege.« In seinen Augen lag ein gehetzter Blick, als hätte ihn diese Erscheinung auf eine Art und Weise getroffen, die er nicht erwartet hatte. Doch sein Gesicht blieb versteinert, während er den verrückten Himmel über sich beobachtete.

Macros nickte. Er stand auf und zeigte nach oben. »Seht, gerade jetzt treten wir in das Zeitalter vor den Chaoskriegen ein, die Tage der Wütenden Götter, die Zeit des Sternentods, und welche Namen die Mythen und die Kundigen noch für diese Epoche haben.«

Pug Schloß die Augen; sein Verstand war kalt und stumpf, und in seinem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz.

Macros sagte: »Es scheint, als würden wir in jeder Sekunde drei-, vierhundert Jahre zurückrasen.« Pug nickte. »Also vergeht alle drei Sekunden ein Jahrtausend«, rechnete Macros. »Das ist ein guter Anfang.«

»Anfang?« fragte Pug. »Wie schnell müssen wir denn noch rasen?«

»Meiner Rechnung nach Milliarden von Jahren. Bei tausend Jahren in einer Sekunde würden wir den Anfang aller Zeit gerade noch in unserem Leben erreichen. Wir müssen also schneller werden.«

Pug nickte deutlich erschöpft und schloß die Augen. Tomas sah in den Himmel. Er konnte jetzt erkennen, wie sich die Sterne bewegten, wenn auch langsam in Anbetracht der Entfernungen. Dann schien ihre Geschwindigkeit zuzunehmen, und wurde immer schneller. Schließlich schlug Pug wieder die Augen auf.

»Ich habe innerhalb der Strukturen der Zeitfalle einen zweiten Zauber aufgebaut. Jetzt verdoppelt sich die Rate jeweils nach einer Minute ohne mein Zutun. Im Moment bewegen wir uns mit zweitausend Jahren pro Sekunde. In einer Minute werden es viertausend sein. Dann achttausend, sechzehntausend, und so weiter.«

Macros' Miene drückte Beifall aus. »Gut. Das gibt uns einige Stunden.«

Tomas sagte: »Ich glaube, es ist an der Zeit, ein paar Fragen zu stellen.«

Macros lächelte mit durchdringenden Augen, als er erwiderte: »Ihr wollt sagen, es ist Zeit für ein paar Antworten.«

Tomas sagte: »Ja, genau das habe ich gemeint. Vor Jahren habt Ihr mich gedrängt, den Frieden mit den Tsurani zu brechen, und in jener Nacht habt Ihr mir auch erzählt, Ihr wäret der Urheber meines gegenwärtigen Daseins. Überall, wohin ich schaue, habt Ihr Eure Finger im Spiel. Ich möchte gern mehr wissen, Macros.«

Macros setzte sich wieder. »Also gut, da wir noch einige Zeit totzuschlagen haben, warum nicht? Im Fortgang dieses Dramas haben wir jetzt einen Punkt erreicht, an dem Euch das Wissen nicht länger verletzen wird. Also, was möchtet Ihr wissen?« Er sah von Tomas zu Pug.

Pug sah seinen Freund an, dann blickte er dem Zauberer scharf ins Gesicht. »Wer seid Ihr?«

 

»Ich?« Die Frage schien Macros zu amüsieren. »Ich bin ... nun, wer bin ich?« Die Frage kam eher rhetorisch. »Ich habe so viele Namen getragen, ich kann mich kaum an alle erinnern.« Er seufzte, als er daran dachte. »Doch derjenige, den man mir bei meiner Geburt gegeben hat, lautet in der Sprache des Königreichs einfach Falke.« Und mit einem Lächeln auf den Lippen fuhr er fort. »Das Volk, dem meine Mutter angehörte, war ein wenig primitiv.« Er dachte nach. »Nun, ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll. Vielleicht am besten mit dem Ort und der Zeit meiner Geburt.

Auf einer fernen Welt gab es einst ein riesiges Reich, das zu seinen besten Zeiten an Groß-Kesh und selbst an Tsurani heranreichte. Dieses Reich war in vielerlei Hinsicht sehr durchschnittlich - es gab keine genialen Künstler, Philosophen oder Anführer, von dem einen oder anderen einmal abgesehen, der selbst in den eigentümlichsten Zeiten plötzlich auf der Bildfläche erscheint. Doch das Reich hatte Bestand. Und das einzige Bemerkenswerte daran war der Frieden, den das Reich seinen Domänen aufgezwungen hatte.

Mein Vater war ein Kaufmann, durch und durch ein einfacher Mann, dazu äußerst sparsam, und er besaß Schuldscheine von den meisten mächtigen Männern seines Ortes. Ich erzähle Euch das nur, damit Ihr versteht: Mein Vater war nicht aus dem Stoff, aus dem die großen Sagen gemacht werden. Er war ausgesprochen unauffällig und einfach.

Dann tauchte in dem Land, in dem mein Vater geboren wurde, ein weiterer einfacher Mann auf, jedoch einer, der zauberhaft reden konnte und die irritierende Gabe hatte, die Menschen zum Nachdenken zu bringen. Er stellte Fragen, die die Mächtigen nervös machten, doch weil er ein friedlicher Mann war, fand er viele Anhänger, von denen einige allerdings zur Gewalt neigten. Aus diesem Grund erhoben die Herrschenden eine falsche Anklage gegen den Mann. Er wurde vor Gericht gestellt, und niemand bekam die Gelegenheit, seine Stimme zu seinen Gunsten zu erheben. Er wurde von den Verschworenen für verräterische Reden, die er gar nicht gehalten hatte, zur härtesten Strafe verurteilt, und seine Hinrichtung wurde angeordnet.

Diese sollte in der Öffentlichkeit stattfinden, ganz so, wie es zu jener Zeit üblich war, und deshalb hatte sich viel Volk versammelt, darunter auch mein Vater. Der arme, unbedarfte Kaufmann stand dort zusammen mit einigen hochrangigeren Landsleuten, und um den Herrschern zu gefallen - diese schuldeten ihm Geld -, beteiligte er sich an der Spötterei, die der verdammte Mann auf dem Weg in seinen Tod über sich ergehen lassen mußte.

Aus welchem Grunde auch immer, ob es nur ein Wink des Schicksals oder der trockene Humor eines Gottes war, blieb der Verurteilte stehen und blickte meinem Vater ins Gesicht. Bei so vielen, die ihn quälten und verspotteten, richtete er seinen Blick ausgerechnet auf diesen einfachen Kaufmann. Vielleicht war dieser Mann ein Zauberer, vielleicht war es auch nur der Fluch eines sterbenden Mannes. Doch von all jenen auf der Prachtstraße verfluchte er ausgerechnet meinen Vater. Es war ein seltsamer Fluch, den mein Vater als Phantasterei eines Mannes abtat, der vor Angst wahnsinnig geworden war.

Der Mann starb, und die Jahre vergingen, und eines Tages bemerkte mein Vater, daß er nicht mehr älter wurde. Seine Nachbarn und seine Geschäftsfreunde zeigten langsam die Spuren der Jahre, doch mein Vater sah immer noch aus wie ein Kaufmann von ungefähr vierzig Jahren. Als der Unterschied auffällig wurde, verließ mein Vater seine Heimat, bevor man ihn als Diener der dunklen Mächte brandmarken würde. Jahrelang reiste er umher. Zunächst verwendete er seine Zeit für gute Zwecke und wurde zu einem wohltuenden Gelehrten. Dann erst erfuhr er, worin der Fluch wirklich bestand. Er hatte einen schweren Unfall und mußte den größten Teil eines Jahres im Bett verbringen. Er erkannte, ihm war der Tod versagt. Selbst wenn er zu Tode verwundet war, würde er schließlich wieder genesen.

Er fing an, sich nach der Erlösung durch den Tod und nach dem Ende seiner zahllosen Tage zu sehnen. Er kehrte zurück in seine Heimat, um etwas über diesen Mann, der ihn verflucht hatte, in Erfahrung zu bringen.

Dabei entdeckte er, wie der Mythos die Wahrheit verschleierte.

Der Mann stand nunmehr im Mittelpunkt religiöser Auseinandersetzungen. Von den einen wurde er als Scharlatan betrachtet, von anderen als Bote der Götter, von wieder anderen selbst als Gott, und noch andere hielten ihn für einen dämonischen Herold der Verdammung. Diese Auseinandersetzung führte zu Kämpfen im Reich. Religionskriege sind nie eine angenehme Angelegenheit. Doch eine Sache wurde nicht vergessen: Es gab drei magische Reliquien, die zusammen mit dem toten Mann die Macht haben sollten zu heilen, Frieden zu stiften und sogar Flüche rückgängig zu machen. Soweit ich verstanden habe, handelte es sich bei diesen Reliquien um einen Stab, um einen Mantel und um einen Kelch. Mein Vater machte sich sofort auf die Suche nach den drei Gegenständen.

Die Jahrhunderte vergingen, und schließlich kam mein Vater in ein kleines Land an der Grenze des Reiches, wo man die letzte der drei Reliquien vermutete - die anderen beiden waren angeblich unwiederbringlich verlorengegangen. Das Reich befand sich in Auflösung, so wie es allen Reichen eines Tages widerfährt, und das Land war eine wilde Gegend. Auf dem Weg dorthin wurde mein Vater von Räubern überfallen, die ihn schwer verwundeten und scheinbar tot zurückließen. Doch der Fluch wartete im stillen, bereit, den Verletzten wieder zu heilen.

Er wurde von einer Frau gefunden. Ihr Ehemann war durch einen Unfall beim Fischen ums Leben gekommen und hatte sie unversorgt zurückgelassen. Mein Vater stammte von einem alten Volk mit großer Kultur und Geschichte ab, doch das Volk meiner Mutter - es wurde das Volk der Eidechse genannt - bestand sozusagen noch aus Wilden. Von einer Witwe mußte man sich dortzulande fernhalten, denn jeder, der ihr etwas gab, übernahm die Verantwortung für sie. Diese Frau, die fast nichts besaß, pflegte meinen Vater wieder gesund, und dann legte sie sich zu ihm, weil sie keinen Mann mehr hatte und weil mein Vater zu jener Zeit ein offensichtlich wohlgebildeter und möglicherweise wichtiger Mann war. Langer Rede kurzer Sinn - ich wurde gezeugt.

Mein Vater erklärte meiner Mutter seine Absichten, doch sie wußte nichts über die Reliquien, die er suchte, obwohl die Legende auch in diesem fernen Land sehr verbreitet war. Ich vermute eher, sie wollte ihren zweiten Ehemann nicht allzuweit von Zuhause fortlassen.

Also blieb mein Vater eine Zeitlang bei meiner Mutter. In dem Land, aus dem er kam, hieß es, das Kind erbe die Sünden seines Vaters, doch wie auch immer, ich verdanke es diesem Erbe, daß ich noch lebe. Mein Vater blieb lange genug, um mir seine Sprache und die Geschichte seines Landes beizubringen, dazu die Grundkenntnisse des Lesens und Schreibens. Ein Gerücht trieb ihn schließlich wieder in die Welt hinaus: Es gab einen Hinweis auf eine der verlorenen Reliquien, und er setzte seine Suche fort und machte sich nach Westen über das riesige Meer auf. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Nach allem, was ich weiß, sucht er immer noch. Meine Mutter kehrte mit mir in das Dorf zurück, in dem sie geboren wurde.

Da saß meine Mutter also, allein mit einem Sohn und keiner vernünftigen Erklärung, wo er herstammte, und für ihre Leute dachte sie sich eine Geschichte aus, laut der sie sich mit einem Dämon zusammengetan habe. Durch den Unterricht meines Vaters war ich weit gebildeter als die weisesten der Älteren, und mein Wissen verlieh ihrer Geschichte einige Glaubwürdigkeit. In Kürze gewann meine Mutter bedeutenden Einfluß in ihrer Gemeinschaft. Sie wurde eine Seherin, obwohl sie wesentlich besser schauspielern konnte als weissagen. Doch ich hatte schon als Kind Visionen. Als ich vierzehn war, verließ ich meine Mutter und wanderte dorthin, wo ein alter Orden von Priestern lebte, in einem Land, das mir zu jener Zeit weit entfernt von meiner Heimat zu liegen schien - eigentlich war es jedoch nur ein Katzensprung, verglichen mit den Reisen, die ich seitdem unternommen habe. Sie unterrichteten mich und gaben mir ein Wissen, welches in Gefahr stand verlorenzugehen. Als ich meinen Platz in jener Bruderschaft einnahm, wurde ich geistig zu einem fernen Ort geschickt.

Ich wurde ... irgendwo hingebracht, und eine Kraft, vielleicht sogar ein Gott selbst, sprach zu mir. Ich wurde unter vielen ausgewählt, ich wurde als ein besonderes Werkzeug seltener Kräfte angesehen. Doch ich hatte einen Preis dafür zu zahlen, wenn ich diese Kräfte für mich selbst gebrauchen wollte. Man ließ mir die Wahl. Entweder könnte ich einfach nur Gebete murmeln, ohne besonders bedeutsam für die Ordnung der Welten zu werden - dafür hätte ich ein sicheres und bequemes Leben geführt -, oder ich könnte die wahren magischen Künste lernen. Es war klar, auf diesem Weg würden mich ohne Frage Schmerzen und Gefahren erwarten. Ich zögerte, doch sosehr ich mir das friedliche Dasein eines klösterlichen Lebens wünschte, die Verlockung des Wissens war zu stark, und ich konnte nicht widerstehen. Ich wählte die Macht, und der Preis war zwiefältig. Ich wurde verdammt, wie mein Vater ohne Hoffnung auf den Tod zu leben, und mir wurde gleichzeitig die Gabe - oder der Fluch - des Vorherwissens verliehen. Dieses Wissen bekam ich, damit ich meine Rolle in diesem Spiel spielen konnte. Und seit jenem Tag habe ich mein Leben im Einklang mit diesem Vorherwissen gebracht. Ich bin dazu bestimmt, den Kräften zu dienen, die die Ordnung im Universum erhalten wollen und den gleichstarken Mächten der Zerstörung gegenüberzutreten.«

Macros lehnte sich zurück. »Kurz gesagt, ich bin ein Mann, der einen Fluch geerbt und einige Gaben dazugewonnen hat.«

Pug sagte: »Ich glaube, ich verstehe, was Ihr sagen wollt. Wir haben schon darüber nachgedacht, ob Ihr nicht der Drahtzieher eines bösen Spiels seid, doch die Wahrheit ist, Ihr seid nur der wichtigste Bauer auf dem Schachfeld.«

Macros nickte. »Ich allein hätte nie den Willen oder gar den Mut gehabt, mein Vorherwissen herauszufordern. Seit dem Tag, an dem ich meine Priesterschaft niedergelegt habe, war mir bewußt, ich würde jahrhundertelang leben und viele Male über die Leben anderer bestimmen müssen, bevor ich überhaupt nur anfangen würde zu verstehen, worauf das alles hinausläuft.«

»Was meint Ihr?« fragte Tomas.

Macros sah sich um. »Wenn es so verläuft, wie ich vermute, werden wir Zeugen von etwas werden, das kein anderes sterbliches Wesen und auch nicht die Götter jemals zuvor gesehen haben. Wenn wir überleben, werden wir einige Zeit für unsere Rückkehr nach Hause brauchen. Ich bin müde, und Pug ebenfalls. Ich glaube, ich werde etwas schlafen. Weckt mich.«

»Wann?« fragte Tomas.

Macros lächelte geheimnisvoll. »Ihr werdet schon wissen, wann.«

 

»Macros!«

Macros öffnete die Augen und sah in die Richtung, in die Tomas zeigte. Er streckte und erhob sich. »Ja, es ist an der Zeit.«

Pug erwachte ebenfalls und machte große Augen. Über ihnen schossen die Sterne mit rasender Geschwindigkeit durch den Kosmos, entgegen ihrem eigentlichen Kurs, da die Zeit rückwärts ablief. Der Himmel stand in Flammen, ein Anblick von erschreckender Schönheit; die aufeinandertreffenden Kräfte setzten Farben von enormer Intensität frei. Das Licht war konzentriert, und alles über ihnen zog sich immer mehr zusammen. In der Mitte tauchte eine völlige Leere auf. Es schien so, als rauschten sie durch einen langen glitzernden, gestreiften Tunnel auf das dunkelste Loch zu, das nur vorstellbar war.

»Das könnte sehr interessant werden«, bemerkte der Zauberer. »Ich weiß, Ihr werdet mich für komisch halten, doch ich finde es sehr erfrischend, daß wir nicht wissen, was als nächstes kommt. Ich meine, ich weiß, was wahrscheinlich passieren wird, aber ich habe es noch nie gesehen.«

Pug sagte: »Es ist sehr schön, nur was ist es?«

»Der Anfang, Pug.« Während sie sprachen, bewegten sie sich immer schneller und schneller auf die völlige Schwärze zu. Die Farben schmolzen jetzt zu einem reinen weißen Licht zusammen, das in den Augen schmerzte.

»Seht nur hinter uns!« sagte Tomas.

Dort, wo wirklicher Raum gewesen war, erstreckte sich jetzt das gleichmäßige Grau des Spaltraumes. Macros klatschte offensichtlich verzückt in die Hände.

»Wunderschön! Es ist genauso, wie ich dachte. Wir werden dieser Falle entkommen, Freunde. Wir nähern uns jenem Ort, an dem Zeit keine Bedeutung hat. Paßt auf!«

In einem letzten Aufbäumen erstaunlicher Erhabenheit brach alles um sie herum zusammen, als würde es in den Schlund dieses schwarzen Nichts gesaugt. »Pug, Ihr müßt unsere Bewegung zum Stehen bringen, ehe wir dort hineingezogen werden.« Pug Schloß die Augen und tat, worum man ihn gebeten hatte. Schneller und schneller wurden die letzten Reste dieses Universums von dem gigantischen Etwas vor ihnen verschlungen, bis das letzte Stäubchen, die letzte Spur eines Gegenstandes verschwunden war. Dann umklammerte Pug seinen Kopf und schrie vor Schmerz auf.

Die Beine wollten unter ihm nachgeben, und Macros und Tomas eilten zu ihm und setzten ihn hin. Einen Augenblick später sagte er: »Mir geht es gut.« Seine Haut war aschfahl, und auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen. »Es war nur das Ende des Beschleunigungszaubers, als wir der Zeitfalle entkommen sind - das war schmerzhaft.«

Macros sagte: »Tut mir leid. Das hätte ich auch ahnen können.« Und fast zu sich selbst fügte er hinzu: »Doch das, was wir wissen, hat im Hier und Jetzt nur wenig Wert.«

Macros zeigte nach oben, wo es nichts anderes mehr gab als eine unermeßliche, völlige Dunkelheit. Sie schien sich in einer grenzenlosen, gekrümmten Linie zu erstrecken, die vom Auge kaum mehr zu erfassen war. Der Garten und die Ewige Stadt schwebten an ihrer Grenze.

Macros sagte: »Faszinierend. Jetzt wissen wir, daß die Ewige Stadt außerhalb der eigentlichen Ordnung des Universums existiert.«

»Was ist das?« fragte Tomas und zeigte auf das unvorstellbar schwarze Gestirn am Himmel.

»Die Gesamtheit aller Universen, Tomas«, erwiderte der Zauberer. »Die Urmaterie, von der alles andere abstammt. Sie ist alles - abgesehen von dem Fleckchen Erde, auf dem wir selbst und die Ewige Stadt stehen. Dort draußen gibt es so viel, daß Größe und Entfernung keine Rolle spielen. Wir sind millionenmal weiter davon entfernt als Midkemia von seiner Sonne, doch seht nur, wie riesig es vor uns liegt und fast den halben Himmel verdeckt. Es ist verblüffend, wenn man darüber nachdenkt. Selbst das Licht kann von dort nicht entkommen, weil es noch nicht entstanden ist. Wir befinden uns vor aller Zeit, vor dem Ursprung. Wir sind die Zeugen des Anfangs. Ryath, sieh dir das an!« Der Drache erwachte aus seinem Dämmerzustand und räkelte sich. Er kam näher und stellte sich hinter die drei Menschen. Macros sagte: »Sei wachsam.«

Alle wandten sich der völligen Dunkelheit zu und beobachteten sie. Einige Minuten lang geschah gar nichts. Da sich im Garten kein Lüftchen regte, herrschte vollkommene Stille. Die Beobachter waren sich ihres eigenen Seins bewußt und nahmen alles genau wahr, bis hin zum pochenden Rhythmus des Blutes, das in ihren Adern floß. Und außer dem Geräusch ihres eigenen Atems war nichts zu hören. Dann war der Ton da.

Eine Freude erfüllte sie, ein tief reichendes Gefühl des Richtigen schlug wie eine Welle über ihnen zusammen, eine Schönheit, zu schrecklich, um sie zu verstehen. Ein einziger, makelloser Ton schien zu erklingen, man konnte ihn eher fühlen als hören. Farben, kräftiger als alles, was sie je gesehen hatten, tauchten vor ihnen auf, obwohl immer noch das schwarze Nichts über ihnen hing. Dieses unbeschreibliche Wunder und gleichfalls unbeschreiblicher Schrecken wollte sie fast erdrücken. Innerhalb eines Augenblicks wurden sie alle zur Bedeutungslosigkeit verdammt, jeder von ihnen fühlte sich verzweifelt und allein, obwohl sie alle in diesem Moment auch eine Erhabenheit spürten, die ihnen die Tränen der Freude in die Augen trieb.

Es war unmöglich zu verstehen. Es flackerte, als breiteten sich Millionen von Kraftlinien über der Oberfläche des Nichts aus, doch sie bewegten sich so schnell, daß man ihnen kaum mit den Augen folgen konnte. Im einen Moment war alles schwarz und formlos, im nächsten zog sich ein Gitterwerk unzähliger glühender Linien über das riesige Nichts, und der Himmel wurde von Licht erfüllt, das in Stärke und Reinheit schwankte. Sie mußten ihre Augen vor diesem blendenden Anblick schützen. Ein Sturm unermeßlicher Energien schoß hervor, so wie sie ihn vorhin schon gesehen hatten, doch nun breitete er sich aus. Ein seltsames Gefühl überkam Pug und seine Gefährten, eine Vollkommenheit, als wäre das, was sie soeben erfahren hatten, nun zum Ende gekommen. Sie weinten über die Schönheit dieses Anblicks.

»Macros, was war das?« fragte Tomas leise und voller Ehrfurcht.

»Die Hand Gottes«, flüsterte der, mit vor Bewunderung aufgerissenen Augen. »Der ursprüngliche Drang. Der Erste Grund. Das Endgültige. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Ich weiß nur dies: im einen Moment gab es nichts, im nächsten war alles da. Das ist das Große Geheimnis, und selbst jetzt, nachdem ich es gesehen habe, kann ich nicht behaupten, ich hätte es verstanden.« Der Zauberer lachte, laut und freudig, und tanzte sogar ein wenig herum.

Pug und Tomas wechselten fragende Blicke, und Macros bemerkte, daß er ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Ausgesprochen heiter sagte er: »Wir sind nicht nur aus dem einen Grund hier, das ist mir gerade klargeworden.« Als ihre Mienen Unverständnis verrieten, fuhr er fort: »Warum sollte nicht auch ein Gott eitel sein? Wäre ich der Endgültige, würde ich mir auch Publikum für eine Vorstellung wie diese wünschen.«

Sowohl Pug als auch Tomas begannen zu lachen. Macros machte weitere Freudensprünge, wobei er eine fröhliche Melodie summte. »Götter, ich liebe Fragen, die ich nicht beantworten kann. Das hält die Dinge interessant, auch noch nach so vielen Jahren.« Macros hielt in seinem Tanz inne, sein Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an. Dann sagte er: »Einige meiner Kräfte sind zurückgekehrt.«

Pug hörte auf zu lachen. »Einige?«

»Genug, damit ich Eure Kräfte wirksamer einsetzen kann, wenn wir sie brauchen.« Er nickte leicht. »Und ich kann sogar etwas zum Ganzen dazugeben.«

Pug sah nach oben und betrachtete die Pracht eines neugeborenen Universums, das sich am Himmel ausbreitete. »Damit verglichen, kommen mir unsere Sorgen nichtig vor.«

»Nun, das mögen sie sein«, erwiderte der Zauberer und benahm sich wieder wie sonst. »Doch auf Eurer Heimatwelt mag es Leute geben, die darüber anders denken, während sie Murmandamus' Armee ins Königreich ziehen sehen. Vielleicht ist es nur ein kleiner Planet, es ist jedoch der einzige, den wir haben.«

Sie bewegten sich in der Zeit wieder vorwärts, das spürte Pug, obwohl er nicht wußte wie.

»Wir sind der Zeitfalle entkommen«, stellte Macros fest.

Pug saß da und schwieg vor Verwunderung. Er hatte gefühlt, wie etwas in ihm passiert war, während er der Schöpfung als Zeuge beigewohnt hatte. Jetzt tat er diese Überzeugung kund. Er sah Macros an und sagte: »Ich bin wie Ihr.«

Macros nickte und sah ihn milde an. »Ja, Pug, Ihr seid wie ich. Ich weiß nicht, was das Schicksal für Euch bereithält, doch Ihr seid nicht wie die anderen. Ihr gehört weder zum Niederen noch zum Erhabenen Pfad. Ihr seid ein Zauberer, der weiß, daß es keine Pfade gibt, sondern nur Magie. Und Magie stößt nur dort an die Grenzen, wo die eigene Begabung endet.«

Tomas fragte: »Kannst du in die Zukunft sehen?«

Pug sagte: »Nein, davon wurde ich verschont.«

Macros sagte: »Ihr müßt es so sehen. Das ist keine Sache, die mich nur unglücklich macht, denn es ist auch eine machtvolle Fähigkeit. Verglichen mit anderen mag sie unbedeutend sein, doch trotzdem kann man auf sie zählen. So, und jetzt müssen wir fort von hier.« Er betrachtete den Wahnsinn über ihnen, wo die Materie aus dem Ursprung herausschoß und den Himmel mit Schönheit erfüllte. Grüne und blaue Wirbel von Gasen, rote Gestirne in wütender Pracht, weiße und gelbe Lichtstreifen, all das sauste vorbei, vertilgte das Grau des Spaltraumes und drängte die Grenzen des Nichts zurück. Dann zeigte Macros plötzlich auf etwas: »Da!«

Sie sahen auf und entdeckten, was Macros meinte: ein winziges Band, das sich in weiter Entfernung von ihnen am Himmel erstreckte. »Dorthin müssen wir gehen, und zwar rasch. Beeilt Euch, steigt auf Ryath, und sie wird uns dort hinbringen. Schnell, schnell.« Sie stiegen auf den Rücken des Drachen, und obwohl Ryath sich von der mageren Kost ein wenig geschwächt fühlte, war sie dennoch auf ihre Aufgabe erpicht. Sie hob ab, und mit einem Mal schossen sie durch das Grau des Spaltraumes. Dann drangen sie wieder in den normalen Raum ein und waren über dem schmalen Streifen der Materie.

Macros befahl Ryath, sie solle darüber schweben, und Tomas ließ sie auf den Pfad hinunter. Sie standen auf einer gelbweißen Bahn, die vielleicht alle zwanzig Meter mit schimmernden, silbernen Rechtecken markiert war. Pug betrachtete den kaum zwanzig Fuß breiten Streifen und meinte: »Macros, wir können möglicherweise darauf stehen, doch für Ryath wird das ein Problem.«

Der Zauberer sah nach oben und sagte schnell: »Ryath, wir haben wenig Zeit. Das Verborgene Wissen. Du kannst es entweder enthüllen, wenn du Pug und Tomas vertraust, oder du wirst bei dem Versuch, es zu verbergen, zugrunde gehen. Ich würde dir raten, vertraue ihnen. Aber das mußt du selbst entscheiden, nur schnell.«

Der Drache kniff die großen rubinroten Augen zusammen und betrachtete den Zauberer. »Hat denn mein Vater in seiner Großzügigkeit das verbotene Wissen mit Euch, dem Menschen, geteilt?«

»Ich weiß alles, denn ich wurde einst zu den Freunden gezählt.«

Der Drache faßte Tomas und Pug ins Auge. »Ihr, Valheru, und Euer Gefährte sollt mir denn einen Eid ablegen: Enthüllet niemals jemandem das, wovon Ihr nun Zeuge werdet.«

Tomas sagte: »Bei meinem Leben.«

Pug nickte: »Ich schwöre es.«

Dann umgab den Drachen ein goldenes Schimmern, zuerst nur schwach, doch dann immer stärker. Bald schmerzte es, wenn man hineinsah. Das Licht wurde heller und heller, bis es die Einzelheiten von Ryaths Gestalt verhüllte. Ihre Umrisse begannen sich zu verändern, sie schmolzen und zerflossen und zogen sich zusammen, während sie auf die Straße herunterschwebte. Der Drache wurde immer kleiner, bis er die Größe eines Menschen erreicht hatte. Daraufhin verblaßte das Glühen. Was einst eine Drachendame gewesen war, stand nun als eine wunderschöne Frau mit rotgoldenem Haar und blauen Augen vor ihnen. Ihr Körper war vollkommen, wie sie ohne Probleme erkennen konnten, denn sie war unbekleidet.

Pug sagte: »Eine Gestaltwandlerin.«

Ryath näherte sich ihnen und sagte mit singender Stimme: »Es ist den Menschen bekannt, daß wir, so wir wollen, in ihrer Gemeinschaft ein- und ausgehen können. Doch nur die Großen Drachen beherrschen diese Kunst. Und das ist der Grund, warum Euer Volk glaubt, unsere Art sei dahingeschwunden. Denn wir wissen, den Menschen begegnet man besser in dieser Gestalt.«

Tomas sagte: »Obwohl mich der Anblick deiner Schönheit erfreut, wird sie wohl einige Aufregung hervorrufen, wenn wir nach Hause zurückkehren, ohne Kleidung für dich gefunden zu haben.«

Ryath hob ihren lieblichen weißen Arm, und plötzlich stand sie in gelben und goldenen Reisegewändern vor ihnen. »Ich kann mich bedienen, so ich nur will, Valheru. Meine Künste sind weitaus größer, als Ihr ahnen mögt.«

»Das ist wahr«, stimmte Macros zu. »Als ich mit Rhuagh zusammen war, lehrte er mich Zauberkünste, die zuvor kein anderer Sterblicher kannte. Unterschätze nie Ryaths Fähigkeiten. Sie besitzt mehr als nur Fänge, Flammen und Klauen, um einem Feind entgegenzutreten.«

Pug betrachtete die wunderschöne Frau, und er konnte es kaum glauben, daß Augenblicke zuvor sie noch in Drachengestalt vor ihnen gestanden hatte. Er sah Macros kühl an. »Gathis hat einmal gesagt, Ihr hättet Euch immer darüber beschwert, wieviel es zu lernen gibt und wie wenig Zeit man dafür hat. So langsam fange ich an zu verstehen.«

Macros lächelte. »Dann steht Ihr endlich am Beginn Eurer Lehrzeit, Pug.« Macros sah sich um. In seinem Gesicht spiegelte sich Triumph, und seine Augen funkelten.

Pug sagte: »Was ist los?«

»Wir saßen in der Falle, und wir hatten keine Hoffnung auf den Sieg. Und noch immer können wir versagen, Pug, aber zumindest können wir jetzt wieder in das Spiel einsteigen - wir haben sogar eine kleine Siegeschance. Kommt, wir haben eine weitere Reise vor uns.«

Der Zauberer führte sie den Weg entlang, und sie gingen an den schimmernden Rechtecken vorbei. Dazwischen sahen sie die schnell zurückkehrenden Sterne der neuerlichen Schöpfung. Langsam kroch das Grau des Spaltraumes davon. »Macros«, fragte Pug, »was ist das für ein Ort?«

»Es ist der seltsamste Ort von allen, selbst verglichen mit der Ewigen Stadt. Er wird die Halle des Universums genannt, Sternengang, Torweg oder meistens der Gang zwischen den Welten. Für die Mehrheit jener, die hierherkommen, ist es einfach der Gang. Wir haben viel Zeit, uns zu unterhalten, während wir unterwegs sind. Denn wir werden nach Midkemia zurückkehren. Doch vorher muß ich Euch noch einige Dinge erzählen.«

»Zum Beispiel?« fragte Tomas.

»Zum Beispiel etwas über die wahre Natur des Feindes«, erwiderte Pug.

»Das auch«, stimmte Macros zu. »Ich habe Euch damit bis zum Schluß verschont, denn falls wir der Zeitfalle nicht entkommen wären, warum hätte ich Euch damit belasten sollen? Doch jetzt müssen wir uns auf den letzten Kampf vorbereiten, und deshalb müßt Ihr den Rest der Geschichte kennen.«

Die beiden Zauberer sahen Tomas an, und der sagte: »Ich verstehe nicht, was Ihr meint.«

»Viele Dinge der Vergangenheit sind Euch bisher verborgen geblieben, Tomas. Es ist an der Zeit, daß der Schleier gelüftet wird.«

Macros blieb stehen, streckte die Hand aus, und während er sie Tomas auf die Augen legte, sagte er ein fremdartiges Wort. Tomas erstarrte, als er spürte, wie die Erinnerung zurückkam.

 

Eine Welt drehte sich durch das Nichts und umkreiste einen lebenspendenden Stern. Auf dieser Welt blühte das Leben in Hülle und Fülle. Zwei Wesen standen mit gegrätschten Beinen darüber, und jedes hatte seine besondere Aufgabe. Rathar hielt die vielfältigen Stränge von Leben und Macht in den Händen, und mit Sorgfalt verwob sie diese zu einem komplizierten Geflecht der Ordnung, verband sie zu einem starken breiten Band. Gegenüber von Rathar stand ein weiteres Wesen, Mythar, der nach dem Band griff, es mit wilder Besessenheit wieder in seine einzelnen Stränge zerpflückte und sie durcheinander fliegen ließ, bis Rathar sie abermals aufnahm und zusammenwob. Beide folgten dem Trieb ihrer jeweiligen Natur, und beiden waren alle anderen Lebewesen gleichgültig. Sie waren die Zwei Blinden Götter des Anfangs. Solcher Art war die Beschaffenheit des Universums in seinen Kindertagen. Endlos arbeiteten die beiden Gottheiten vor sich hin, und die winzigen Faserstränge, die Rathar entgingen, fielen auf den Boden der Welt unter ihnen. Und daraus entstand das größte Wunder der Schöpfung: Leben.

Ashen-Shugar wurde von den unsanften Händen der Hebamme, einer Moredhel, aus dem Leib seiner Mutter gezerrt. Hali-Marmora nahm das Schwert und durchtrennte die Nabelschnur, die den Sohn mit ihr verband. Mit vor Schmerz verzogenem Gesicht fauchte sie: »Das ist das Letzte, was du von mir ohne Kampf bekommst.« Die Moredhel lief mit dem neugeborenen Valheru los und übergab ihn einem Elb, der draußen vor der Berghalle wartete.

Der Elb kannte seine Pflicht. Kein Valheru lebte ohne Kampf. So war der Lauf der Dinge. Der Elb trug das stille Kind, das seit seiner Geburt noch keinen Laut von sich gegeben hatte. Das Kind war ohne Wissen geboren worden, ein winziges Ding, doch nicht ohne Macht.

Der Elb erreichte den Ort, den er ausgesucht hatte, und ließ das Kind allein auf einem Felsen zurück, wo es ohne Kleidung und ohne Schutz in der untergehenden Sonne lag.

Das Kind Ashen-Shugar betrachtete seine Umgebung, und mit jeder vergehenden Minute nahm es mehr Wissen über die Namen und Beschaffenheit der Dinge auf. Ein Aasfresser näherte sich schnüffelnd dem Säugling, und mit einem geistigen Schrei der Wut schlug ihn der winzige Valheru in die Flucht.

Gegen Abend glitt hoch über ihm ein Wesen auf seinen breiten Schwingen dahin. Es entdeckte das Ding auf dem Felsen und fragte sich, ob es eine gute Mahlzeit abgeben würde. Da wurde es plötzlich von dem Säugling gerufen.

Ashen-Shugar entdeckte den riesigen Adler, der über ihm seine Kreise zog, und im gleichen Moment wußte er, das war seine Kreatur. In einfachen Bildern befahl er dem Adler zu landen, dann zu jagen. Innerhalb von Minuten war der Vogel mit einem zuckenden Fisch im Maul zurück, und zerlegte mit Schnabel und Krallen die Beute, die zweimal so groß wie der Säugling war. Wie bei allen seines Geschlechts bestand Ashen-Shugars erstes Mahl aus rohem Fleisch.

In der ersten Nacht deckte das große Adlerweibchen das Kind mit seinen Flügeln zu, so wie es der Vogel auch bei seinen eigenen Jungen getan hätte. Und nach wenigen Tagen kümmerten sich ein Dutzend Vögel um den Säugling.

Der Valheru wuchs rasch, viel schneller als andere Kinder. Als der Sommer vergangen war, konnte er schon Wild erlegen, indem er es mit der erstaunlichen Kraft seiner Gedanken tötete. Er riß das Fleisch mit bloßen Händen von den Knochen und aß es roh.

Manchmal berührten andere Gedanken die des Kindes, doch es zog sich dann einfach zurück. Instinktiv wußte es, vor seinem eigenen Geschlecht mußte es sich am meisten fürchten, solange es nicht die Macht hatte, sich in der Gesellschaft einen Platz zu erkämpfen.

Als der Valheru das erste Jahr mit den großen Adlern hinter sich gebracht hatte, kam es zu seinem ersten Kampf. Ein anderer Junge, Lowris-Takara, der sogenannte König der Fledermäuse, erschien gegen Ende der Nacht; er hatte sich von seinen Dienern zu Ashen-Shugar führen lassen. Sie kämpften, und jeder versuchte, die Macht des anderen aufzusaugen, doch Ashen-Shugar gewann schließlich die Oberhand. Nachdem er die Kraft von Lowris-Takara zu der seinen hinzugewonnen hatte, machte er sich auf die Suche nach stärkeren Gegnern. Er jagte andere junge Valheru, so wie Lowris-Takara ihn gejagt hatte, und sieben fielen ihm zum Opfer. Seine Kraft und seine Macht wuchsen, und er nahm den Titel Herrscher des Adlerreichs an. Auf der Jagd saß er stets auf dem Rücken eines der riesigen Vogel. Er zähmte den ersten der mächtigen Drachen, auf denen er reiten würde, und nachdem er seine Mutter im Kampf getötet hatte, übernahm er ihre Höhle für sich selbst. Jahrelang wuchs und wuchs er, und bald war er als einer der Mächtigsten seines Geschlechts bekannt.

Er jagte und vertrieb sich die Zeit mit seiner Moredhelfrau und gelegentlich kam er mit einer seines eigenen Geschlechts zusammen wenn die Hitze über sie hereinbrach und sein mächtiger Trieb die Kampflust, die er seiner eigenen Art gegenüber verspürte, unterdrückte. Aus diesen Vereinigungen entstammten zwei Kinder, die überlebten. Das erste, Alma-Lodaka, zeugte er in den frühen Tagen, das zweite, Draken-Korin, wurde von Alma-Lodaka geboren. Verwandtschaftliche Beziehungen bedeuteten bei den Valheru nichts.

Er jagte mit seinen Brüdern durch den Himmel, wann immer sich der Drang zum Plündern einstellte, der ihnen von Natur aus mitgegeben war. Er nahm seine Eldardiener mit sich, die hinter ihm auf dem Rücken seines Drachen ritten, damit sie sich um seine Beute kümmerten. Er kannte das Universum, und es erzitterte unter dem Donnern des Drachenheeres, wenn sich dieses in die Lüfte erhob. Andere sternenreisende Geschlechter forderten die Valheru heraus, doch keines von ihnen überlebte. Die Denker von Per, die die Macht hatten, die Materie des Lebens zu beeinflussen, wurden niedergeworfen, und mit ihnen gingen auch ihre Geheimnisse verloren. Der Tyrann des Kormoranreiches schickte die Macht von tausend Welten los. Schiffe so groß wie Städte schossen durch die Leere und brachten riesige Kriegsmaschinen gegen die Eindringlinge in Stellung. Die Drachenlords vernichteten sie ohne Zögern, und der Tyrann starb schreiend im tiefsten Keller seines Palastes, während seine Welt über ihm in Schutt und Asche gelegt wurde. Die Meister der Majinor wurden mitsamt ihrer dunklen Magie ebenfalls vom Drachenheer hinweggefegt. Das Große Bündnis, die Marschälle der Dämmerung, die Bruderschaft der Siar, sie alle versuchten, den Valheru zu widerstehen. Von allen, die den Drachenlords im Wege standen, konnten nur die Götter der Weisheit von Aal, die man für die ersten Lebewesen hielt, der Zerstörung entgehen, doch auch sie hatten dem Drachenheer nichts entgegenzusetzen. Unter den vielen Bewohnern des Universums waren die Valheru die Herrscher.

Lange Zeit lebte Ashen-Shugar so, wie sein Geschlecht immer gelebt hatte, sie fürchteten niemanden und führten nur Krieg mit Rathar, Die Man Die Ordnung Nennt, und Mythar, Den Man Das Chaos Nennt, mit den Zwei Blinden Göttern des Anfangs also.

Dann erscholl der Ruf, und Ashen-Shugar brach auf, um sich mit seinen Brüdern zu treffen. Es war ein eigentümlicher Ruf, anders als jeder zuvor, denn in ihm schwang nicht der gewohnte Blutdurst. Statt dessen war es ein Ruf zu einem Treffen, wo die Valheru sich versammeln und miteinander sprechen wollten. Es war eine seltsame Idee.

Auf einer Ebene im Süden der Berge und des Großen Waldes standen sie im Kreis, die Hunderte ihres Geschlechts. In der Mitte stand Draken-Korin, der sich selbst Herr der Tiger nannte. Zu beiden Seiten von ihm wartete jeweils eine seiner Kreaturen, die Waffen gekreuzt und die Tigergesichter zu grimmigen Mienen verzogen. Sie hätten als Leibgarde nichts gegen einen der Valheru ausrichten können, sie standen nur dort, damit niemand vergaß, daß Draken-Korin als der Seltsamste seines Geschlechts galt. Er hatte neue Ideen.

»Die Ordnung des Universums verändert sich«, sagte er und zeigte in den Himmel. »Rathar und Mythar sind geflohen, oder sie wurden entthront, aus welchem Grund auch immer, jedenfalls haben Ordnung und Chaos keinerlei Bedeutung mehr. Mythar hat die Stränge der Macht fallengelassen, und daraus haben sich neue Götter erhoben. Ohne Rathar, die die Stränge der Macht zusammenflicht, werden diese Wesen die Macht ergreifen und eine neue Ordnung einführen. Dieser Ordnung müssen wir uns entgegenstellen. Die Götter sind wissend, und sie fordern uns heraus.«

»Wenn einer erscheint, töte ihn«, erwiderte Ashen-Shugar, den die Worte von Draken-Korin kalt ließen.

»Sie sind genauso mächtig wie wir. Im Augenblick streiten sie sich noch untereinander, und jeder versucht, die Herrschaft über die anderen zu erringen, jeder strebt danach, der Meister der Macht zu werden, die die Zwei Blinden Götter des Anfangs zurückgelassen haben. Doch dieser Streit wird zu Ende gehen, und dann werden wir bedroht sein. Sie werden sich uns mit ihrer ganzen Macht zuwenden.«

Ashen-Shugar erwiderte: »Warum sollte uns das bedrücken? Wir werden kämpfen, so wie wir schon immer gekämpft haben. Das ist die einzige Antwort.«

»Nein, wir brauchen mehr. Diesmal müssen wir gemeinsam kämpfen, sonst werden sie uns überwältigen.«

Eine seltsame Stimme sprach zu Ashen-Shugar, eine Stimme, die einen Namen hatte. Den Namen hatte er vergessen, doch die Stimme sprach. Du mußt dich von ihnen trennen.

Der Herrscher des Adlerreichs sagte: »Tu, was du willst. Ich werde mich an keine Abmachung halten.« Er befahl seinem goldenen Drachen Shuruga, in den Himmel aufzusteigen, und flog davon.

Die Zeit verging, und manchmal sah Ashen-Shugar zu, wie seine Brüder arbeiteten. Ein seltsames Ding, so etwas wie die Städte in anderen Welten, wurde mit Hilfe magischer Künste und der Arbeit von Sklaven errichtet. Darin residierten die Valheru bereits, während noch daran gebaut wurde. Wie niemals zuvor in ihrer Geschichte wurden sie eine Gemeinschaft, und ihre kämpferische Natur sollte sich einem Abkommen, einer Waffenruhe unterwerfen. Das befremdete Ashen-Shugar sehr.

Ein Brüllen von oben verlangte von Shuruga eine Antwort. Kämpfen wir? fragte der goldene Drache.

»Nein. Wir warten.«

Ashen-Shugar beachtete Shurugas Enttäuschung nicht. Ein weiterer Drache, schwarz wie die Nacht, landete und näherte sich zögerlich Ashen-Shugar.

»Hat sich der Herrscher des Adlerreichs endlich doch dazu durchgerungen, sich uns anzuschließen?« fragte Draken-Korin, dessen schwarzorange gestreifte Rüstung im schwachen Licht glänzte, und stieg von seinem Drachen.

»Nein. Ich sehe einfach nur zu«, antwortete Ashen-Shugar, der ebenfalls abstieg.

»Du hast als einziger nicht zugestimmt.«

»Wenn wir uns zur Jagd durch den Kosmos zusammentun, ist das eine Sache, Draken-Korin. Dieser ... dieser Plan von dir ist wahnsinnig.«

»Warum ist es wahnsinnig? Ich weiß nicht, was du meinst. Wir sind. Wir handeln. Was gibt es mehr?«

»Aber das ist nicht unsere Art!«

»Es ist auch nicht unsere Art, daß sich andere gegen unseren Willen erheben. Diese neuen Wesen, sie suchen den Streit mit uns.«

Ashen-Shugar sah in den Himmel und betrachtete die Zeichen, anhand derer Draken-Korin ihm beweisen wollte, daß die neuen Götter mit ihnen um die Macht kämpften. »Ja, so ist es.« Er erinnerte sich an die Wesen von anderen Sternen, denen sie gegenüber gestanden hatten, diese Sterblichen, die das Drachenheer besiegt hatte. »Aber sie sind nicht wie die anderen. Sie sind genau wie wir aus dem Stoff gemacht, aus dem diese Welt besteht.«

»Was macht das schon aus? Wie viele unseres Geschlechts hast du getötet? Wieviel Blut ist geflossen? Wer auch immer sich gegen dich stellt, muß getötet werden, oder er tötet dich. Das ist alles.«

»Was ist mit denen, die du zurückläßt, die Moredhel und die Elben?« Er benutzte die Begriffe, die die Sklaven des Hauses von den Sklaven der Felder und der Wälder unterschieden.

»Was soll mit ihnen sein? Sie sind nichts.«

»Sie sind die unsrigen.« Ashen-Shugar fühlte etwas Fremdes in sich selbst, und er wußte, der andere, dessen Name ihm immer wieder entfiel, bereitete ihm fremdartige Sorgen.

»Du bist seltsam geworden, dort unter den Bergen, Ashen-Shugar. Sie sind unsere Diener. Sie besitzen keine wirkliche Macht. Es gibt sie nur zu unserem Vergnügen, mehr nicht. Warum machst du dir Sorgen um sie?«

»Ich weiß es nicht. Es ist etwas ...«, er unterbrach sich, als hörte er einen Ruf zu einem anderen Ort, »etwas falsch daran, wie die Ereignisse vonstatten gehen. Ich glaube, wir riskieren nicht nur uns selbst, sondern die Beschaffenheit des ganzen Universums.«

Draken-Korin zuckte mit den Schultern und ging zurück zu seinem Drachen. »Was macht das schon? Wenn wir versagen, dann sind wir tot. Was macht es aus, wenn das Universum mit uns untergeht?« Draken-Korin stieg auf seinen Drachen. »Du zerbrichst dir den Kopf über Dinge, die nicht von Bedeutung sind.«

Draken-Korin flog davon, und Ashen-Shugar blieb sich selbst und seinen neuen Gefühlen überlassen.

Die Zeit verstrich, und der Herrscher des Adlerreichs beobachtete, wie die Arbeit an Draken-Korins Stadt ihrem Ende zuging. Als sie fertig war, kam Ashen-Shugar und überraschte sein Volk bei einer neuerlichen Ratsversammlung. Er ging eine breite Prachtstraße entlang, die mit hohen Säulen gesäumt war, jede von ihnen mit einem aus Stein gehauenen Tigerkopf verziert. Draken-Korins Eitelkeit amüsierte ihn.

Er ging eine lange Rampe hinunter und erreichte die große Kammer unter der Erde. In der riesigen Halle hatten sich die Valheru versammelt. Alma-Lodaka, die sich selbst die Smaragdgrüne Herrin der Schlangen nannte, sagte: »Bist du gekommen, um zu uns zu stoßen, Vater-Mann?« Sie wurde an jeder Seite von einem ihrem Diener begleitet. Die Schlangen hatten Arme und Beine und waren etwa so hochgewachsen wie Moredhel. Bernsteinfarbene Augen blinzelten Ashen-Shugar an, als sie ihre Blicke auf ihn richteten.

»Ich bin gekommen, weil ich Zeuge eurer Torheit werden wollte.«

Draken-Korin zog sein schwarzes Schwert, doch ein anderer, Alrin-Stolda, der Monarch des Schwarzen Sees, schrie: »Vergieß das Blut eines Valheru, und das Abkommen ist nichtig!«

Der Herr der Tiger schob sein Schwert zurück in die Scheide. »Es ist besser, daß du erst jetzt kommst, sonst hätte ich deiner Spötterei schon längst ein Ende bereitet.«

Ashen-Shugar sagte: »Ich habe keine Angst vor dir. Ich möchte nur sehen, was ihr hier gebaut habt. Dies ist meine Welt, und das, was mir gehört, soll nicht bedroht werden.«

Die anderen bedachten ihn mit kalten Blicken, und Alrin-Stolda sagte: »Tu, was du willst, doch wisse, wir lassen unsere Pläne nicht von dir durchkreuzen. So mächtig du auch bist, Herrscher des Adlerreichs, du kannst dich nicht gegen uns alle stellen. Paß nur auf, sonst tun wir, was sich nicht vermeiden läßt.«

Gemeinsam und unter Führung von Draken-Korin wirkten sie große Magie. Einen Augenblick lang verspürte Ashen-Shugar einen mörderischen Schmerz. Vor ihm auf dem Boden der Halle erschien ein riesiger runder, geschliffener Stein, der oben abgeflacht war, ein grünes Ding, das von einem inneren Feuer wie ein Smaragd glühte. Draken-Korin stellte sich davor und legte die Hand darauf. Der Stein flackerte, als der Drachenlord sagte: »Das letzte Werkzeug. Der Stein des Lebens.«

Ohne weitere Worte verließ Ashen-Shugar die Halle und ging zurück zu Shuruga. Hinter sich hörte er eine Stimme, und er drehte sich noch einmal um. Alma-Lodaka eilte ihm nach.

»Vater-Mann. Willst du dich nicht uns anschließen?«

Er spürte, wie ihn etwas seltsam zu ihr drängte, als hätte die Hitze sie überkommen, doch anders. Er verstand dieses eigentümliche Gefühl nicht. Das ist Zuneigung, sagte die Stimme des anderen. Er ignorierte die Worte und antwortete ihr: »Tochter-Weib, unser Bruder-Sohn hat das begonnen, was in der endgültigen Zerstörung enden wird. Er ist wahnsinnig.«

Sie sah ihn merkwürdig an. »Ich weiß nicht, was du meinst. Ich kenne das Wort nicht. Wir tun, was wir tun müssen. Ich hätte dich gern an meiner Seite gesehen, denn du bist mächtiger als jeder andere von uns, doch du mußt tun, was du willst. Stellst du dich uns entgegen, ist das dein eigenes Risiko.«

Sie drehte sich um und kehrte in die Halle zurück, wo weiter große Magie gewirkt wurde.

Ashen-Shugar stieg auf seinen Drachen und flog zu seinem Adlerreich.

Als Ashen-Shugar sein Domizil in den Bergen betrat, hallte am Himmel aus weiter Ferne Donner wider. Und er wußte, das Drachenheer flog abermals zwischen den Welten.

Wochenlang tobte der Himmel. Der Wahnsinn kannte keine Grenzen mehr, als die Valheru sich erhoben und die neuen Götter herausforderten. Zeit hatte keine Bedeutung, und die Wirklichkeit floß dahin. In der Mitte seiner Halle brütete Ashen-Shugar vor sich hin.

Dann rief er Shuruga und flog zu jenem seltsamen Ort in der Ebene, dieser Stadt, die Draken-Korin erbaut hatte. Dort wartete er.

Unermeßliche Energien wirbelten durch den Himmel. Ashen-Shugar konnte sehen, wie die Strukturen von Zeit und Raum zerrissen und sich zusammenfalteten. Er wußte, der Moment war fast gekommen. Er saß schweigend auf Shurugas Rücken und wartete.

Eine Trompete erscholl, das Alarmzeichen seiner Welt. Der Moment, auf den er gewartet hatte, war da. Er drängte Shuruga nach oben und suchte nach dem, was nun bald in dem verrückten Himmel vor ihm auftauchen mußte. Der Drache unter ihm versteifte sich, und Ashen-Shugar entdeckte seine Beute. Die Gestalt von Draken-Korin wuchs erkennbar, während er seinen schwarzen Drachen zügelte. Ein seltsames Funkeln blitzte in Draken-Korins Augen, etwas Fremdes. Die andere Stimme sagte: Das ist das Grauen.

Shuruga schoß vorwärts. Der große Drache brüllte seine Herausforderung, die von Draken-Korins schwarzem Geschöpf erwidert wurde. Dann trafen die beiden in der Luft aufeinander.

Es war schnell vorbei, denn Draken-Korin hatte zuviel von seinem Wesen aufgegeben, um diesen Wahnsinn zu inszenieren, der sich am Himmel abspielte.

Ashen-Shugar landete in der Nähe seines Widersachers und stellte sich über ihn. Der gestürzte Valheru sah auf und flüsterte: »Warum?«

Ashen-Shugar deutete nach oben und sagte: »Diese Widerlichkeit hätte niemals erlaubt werden dürfen. Du bringst allem, was wir kennen, das Ende.«

Draken-Korin sah in den Himmel, wo seine Brüder gegen die Götter kämpften. »Sie waren so stark. Das haben wir nicht vermutet.« Sein Gesicht verriet Schrecken und Haß, als Ashen-Shugar seine goldene Klinge hob, um seinem Leben ein Ende zu bereiten. »Aber ich hatte das Recht!« schrie er.

Ashen-Shugar trennte Draken-Korins Kopf vom Rumpf, und Kopf und Körper lösten sich mit lautem Zischen in Rauch auf. Der gefallene Valheru hinterließ nicht die geringste Spur, denn er kehrte in den Himmel zurück, um sich mit gedankenlosem Zorn in die Schlacht mit den Göttern zu werfen. Verbittert sagte Ashen-Shugar: »Es gibt kein Recht. Es gibt nur Macht.« Jetzt, von allen seines Geschlechts verlassen, spürte er die spöttische Ironie in diesen Worten. Er zog sich zu seiner Höhle zurück und wartete dort auf den endgültigen Ausbruch der Chaoskriege.

Zeit hatte keine Bedeutung, denn die Zeit selbst wurde in der Schlacht als Waffe benutzt, doch auf irgendeine Art verstrich sie, während die Götter ihren Krieg gegen das führten, was von dem Drachenheer Übriggeblieben war. Dann taten sich die Götter zusammen, die den gegenseitigen Vernichtungskrieg überlebt hatten, und jeder fand seinen Platz in der Hierarchie der Dinge. Danach richteten sie ihre Aufmerksamkeit vereint auf die Valheru. Sie waren eine so starke Macht geworden, wie es sich Draken-Korin nicht hätte träumen lassen, und wie ein Mann vertrieben sie die Valheru aus dem Universum. Sie jagten sie in eine andere Dimension von Raum und Zeit, und sie wollten die Valheru nicht wieder in ihre alte Heimat hineinlassen. In überschäumender Wut versuchten die Valheru, sich den Heimweg zu erkämpfen, weil sie jenen Ort erreichen wollten, den sie für diesen Tag gebaut hatten, jenen Ort, der ihnen von einem der ihren verweigert worden war. Ashen-Shugar hatte ihren Sieg verhindert. In ihrem Zorn richteten sie ihre Macht gegen die niedrigeren Wesen des neuen Universums. Sie zogen von Welt zu Welt, wüteten und zerstörten alles, was auf ihrem Weg lag. Und aus jeder Welt saugten sie die Materie des Lebens, die Geheimnisse der Magie und die Kraft der Sonnen. Vor ihnen lagen warme, grüne Welten, die sich um strahlende Sonnen drehten; hinter ihnen blieben kalte, leblose Gestirne zurück, um ausgebrannte Sterne kreisend. In ihrem rasenden Versuch, auf die Welt ihrer Herkunft zurückzukehren, zerstörten sie alles, womit sie in Berührung kamen. Niedrige Arten schlossen sich zusammen, wollten dieser tobenden Macht entgegentreten. Zuerst wurden sie einfach hinweggefegt, dann konnten sie die Raserei zumindest verlangsamen, bis sie schließlich einen Weg zur Flucht fanden. Eine niedrige Art, die Menschen genannt wurde, richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Flucht, und tatsächlich fanden sie einen Weg. Die Menschheit und andere Arten entdeckten einen Zufluchtsort. Tore zu anderen Welten wurden geöffnet, und sie alle flohen und verstreuten sich in Raum und Zeit.

In den Strukturen des Universums entstanden große Löcher. Zwerge und Menschen, Goblins und Trolle, alle strömten durch diese Risse in der Wirklichkeit, durch die Spalte zwischen einer Welt und der nächsten. Neue Arten, neue Kreaturen wanderten nach Midkemia und suchten auf dieser Welt nach einem Platz.

Dann verschlossen die Götter die Welt Midkemia auf alle Zeiten für die Drachenlords. Sie versiegelten die Spalten, deren Öffnung sie zugelassen hatten. Plötzlich war der letzte Weg zwischen den Sternen versperrt. Eine Barriere wurde errichtet. Das Drachenheer versuchte vergeblich, dieses Hindernis zu überwinden. Die Rückkehr in die Welt von Midkemia wurde ihnen verwehrt, und in ihrer Wut schworen sie sich gegenseitig, daß sie ein Mittel finden würden, diese Welt wieder zu betreten.

Schließlich war alles vorbei. Die Chaoskriege, die Tage der Wütenden Götter, die Zeit des Sternentods: Wie man es auch nennen mochte, die Auseinandersetzung zwischen dem, was war, und dem, was kommen sollte, war beendet. Und als der Himmel von allem Wahnsinn befreit war, verließ Ashen-Shugar seine Höhle. Er kehrte zu der Ebene vor der Stadt von Draken-Korin zurück und beobachtete, was nach dem wütendsten Krieg aller Zeiten geschehen würde. Er ließ Shuruga landen und erlaubte dem Drachen dann zu jagen. Lange Zeit wartete er auf etwas, er war sich nur nicht sicher, auf was.

Die Stunden verstrichen, dann endlich sagte die andere Stimme:

Was für ein Ort ist dies?

»Die Einöde der Chaoskriege. Draken-Korins Denkmal, eine leblose Tundra, die einst Weideland war. Hier leben nur noch wenige Lebewesen. Die meisten sind in den Süden oder in gastlichere Gegenden geflohen.«

Wer bist du?

Ashen-Shugar war amüsiert. Lachend erwiderte er: »Ich bin, was du werden wirst. Wir sind eins. Das hast du viele Male gesagt.« Das Lachen verstummte. Er war der erste seines Geschlechts, der gelacht hatte. In diesem Humor lag auch Traurigkeit, denn wenn Ashen-Shugar Humor verstand, mußte er die Grenzen des Valheru-Seins überschritten haben, und er begriff, daß er Zeuge des Anfangs eines neuen Zeitalters war.

Ich hatte das vergessen.

Ashen-Shugar, der letzte Valheru, rief Shuruga von der Jagd zurück. Er bestieg sein Drachenroß und warf einen Blick auf die Stelle, an der er Draken-Korin geschlagen hatte, doch daran erinnerte jetzt nur noch seine Asche. Shuruga schnellte in den Himmel empor, hoch über die Hinterlassenschaften der Zerstörung.

Es ist würdig, betrauert zu werden.

»Ich denke, nicht«, sagte der Valheru. »Es ist nur eine Lektion, obwohl ich es selbst nicht glauben kann. Dennoch spüre ich, du wirst es begreifen.« Ashen-Shugar schloß für einen Augenblick die Augen, während das Blut in seinen Schläfen pochte. Die andere Stimme war wieder verschwunden. Er beachtete diese seltsame Persönlichkeit nicht, die ihn seit Jahren zu beeinflussen suchte, und wandte sich seiner Aufgabe zu. Der Valheru flog über die Berge hinweg und suchte nach jenen, die sein Geschlecht versklavt hatte. In den Wäldern des südlichen Kontinents entdeckte er die Festung der Tigermenschen. Mit lauter Stimme, die man überall vernehmen konnte, rief er: »So höret denn: Von diesem Tage an seid ihr ein freies Volk.«

Der Anführer der Tigermenschen rief zurück: »Was ist mit unserem Meister?«

»Er ist fort. Euer Schicksal liegt nun in euren eigenen Händen. Ich, Ashen-Shugar, sage dies.«

Dann ging es tiefer in den Süden, dorthin, wo die Schlangenmenschen lebten, die Alma-Lodaka geschaffen hatte. Und dort wurden seine Worte mit dem Zischen der Angst und des Schreckens aufgenommen. »Wie sollen wir ohne unsere Herrin überleben, ohne unsere göttliche Mutter?«

»Das müßt ihr selbst entscheiden. Ihr seid ein freies Volk.«

Den Schlangen gefiel dieser Gedanke nicht, und sie suchten nach Mitteln, wie sie ihre Herrin zurückholen konnten. Das ganze Volk schwor, bis ans Ende aller Zeit danach zu streben, Alma-Lodaka, die ihre Mutter und Göttin war, in ihre Heimat zurückzuholen. Von diesem Tag an hatte im pantathianischen Schlangenvolk nur noch die Priesterschaft die Macht.

Ashen-Shugar flog um die ganze Welt, und überall, wo er hinkam, sprach er die Worte: »Euer Schicksal ist das eurige. Alle Völker sind frei.« Endlich erreichte er wieder den seltsamen Ort, den Draken-Korin und die anderen erbaut hatten. Dort hatten sich die Elben niedergelassen. Der Valheru landete auf der Ebene und sagte: »Macht die Nachricht überall bekannt. Von diesem Augenblick an seid ihr frei.«

Die Elben sahen sich gegenseitig an, und einer von ihnen sagte: »Was meint Ihr?«

»Ihr seid frei zu tun, was ihr mögt. Niemand wird sich mehr um euch sorgen oder euer Leben bestimmen.«

Der, der gesprochen hatte, sagte: »Aber Meister, die Weisesten unter uns sind mit Euren Brüdern gegangen, und mit ihnen ging das Wissen und die Macht. Ohne die Eldar sind wir schwach. Wie sollen wir also überleben?«

»Euer Schicksal liegt nun in euren eigenen Händen, und ihr müßt es so gut gestalten, wie ihr könnt. Wenn ihr schwach seid, werdet ihr untergehen. Wenn ihr stark seid, werdet ihr überleben. Und merkt euch gut, im Lande gibt es neue Mächte. Kreaturen fremder Natur sind hierhergekommen, und mit ihnen müßt ihr streiten oder Frieden halten, wie ihr wollt, denn auch sie suchen nach ihrem Schicksal. Doch es wird eine neue Ordnung geben, und darin müßt ihr euren Platz finden. Es mag sein, daß ihr euch über andere erheben und herrschen müßt, es mag auch sein, daß sie euch vernichten. Vielleicht ist Frieden möglich. Diese Entscheidung liegt bei euch. Ich habe euch nichts mehr zu sagen, außer einem letzten Befehl: Dieser Ort ist bei meinem heiligen Zorn für alle verboten. Niemand darf ihn je wieder betreten.« Mit einer einzigen Handbewegung beschwor er starke Magie, und die kleine Stadt versank langsam in der Erde. »Der Staub der Jahrhunderte soll sie begraben, und niemand soll sich an sie erinnern. Das ist mein Wille.«

Die Elben verbeugten sich und sagten: »Wenn Ihr befehlt, Meister, so werden wir gehorchen.« Der Älteste der Elben wandte sich an seine Brüder und sprach: »Keiner soll diesen Ort betreten, laßt keinen in seine Nähe. Er wird für die Augen der Sterblichen verschwinden; niemand wird sich an ihn erinnern.«

Ashen-Shugar sagte: »Jetzt seid ihr ein freies Volk.«

Die Elben, die am meisten entfernt von ihrem Meister gelebt hatten, sagten: »Dann werden wir also gehen, und einen Ort finden, an dem wir in Frieden leben können.« Sie zogen nach Westen und suchten einen Ort, an dem sie in Eintracht leben konnten.

Andere Elben sagten: »Wir müssen diesen neuen Wesen gegenüber wachsam sein, weil wir jene sind, die das Recht haben, die Aura der Macht zu erben.«

Ashen-Shugar wandte sich ab und sagte: »Armselige Kreaturen, habt ihr denn nicht gesehen, wie bedeutungslos Macht ist? Findet einen anderen Weg.« Doch die Worte verhallten ungehört, die Moredhel waren bereits davongezogen und träumten die Träume der Macht. Sie hatten den Dunklen Pfad schon betreten, noch während sie ihren Brüdern in den Westen folgten. Bald würden ihre Brüder sie vertreiben, nur jetzt waren sie wie ein Volk.

Andere gingen schweigend davon; bereit, jeden zu vernichten, der sich ihnen in den Weg stellte; nicht zufrieden damit, die Macht ihrer Meister anzustreben; überzeugt, sich alles, was sie wollten, mit der Gewalt der Waffen nehmen zu können. Diese Elben waren gebrochen durch die Mächte, die man während der Chaoskriege auf sie losgelassen hatte, und sie hatten sich bereits von ihren Brüdern abgewandt. Sie würden einst Glamredhel, die verrückten Elben, genannt werden, und derweil sie sich auf den Weg nach Norden machten, warfen sie mißtrauische Blicke auf jene, die gen Westen zogen. Sie würden sich verstecken, sie würden das Wissen und die Zauberei, die Beute von fremden Welten, benutzen, um wie ihre Meister vor ihnen riesige Städte zu bauen, damit sie sich vor ihren Brüdern schützen könnten, während sie selbst Pläne für einen Krieg gegen sie schmiedeten.

Enttäuscht über ihr Ansinnen kehrte Ashen-Shugar zu seiner Halle zurück, um dort solange zu leben, bis er dieses Dasein verlassen müßte, und um den Weg für den anderen vorzubereiten. Das Universum hatte sich verändert, und in seiner Halle fühlte sich Ashen-Shugar wie ein Fremder seiner eigenen Ordnung gegenüber. Als lehnte die Wirklichkeit seine Natur ab, verfiel er in Apathie, in einen betäubungsähnlichen Schlaf, in dem sein eigenes Wesen verwischt wurde und in seine Rüstung floß: die Macht ging auf die Reliquien über. Und er wartete auf den, der kommen und seinen Mantel tragen würde.

Schließlich bewegte er sich doch noch einmal und sprach: »Habe ich mich geirrt?«

Nun kennst du den Zweifel

»Diese seltsame Ruhe in mir, was ist das?«

Das ist der Tod.

Der letzte Valheru Schloß die Augen und sagte: »Ich habe mir das schon gedacht. Nur wenige meiner Art lebten ohne Kampf. Das war selten. Ich bin der letzte. Dennoch würde ich Shuruga gern noch einmal fliegen.«

Er ist dahingegangen, schon seit Jahren tot.

Ashen-Shugar kämpfte mit schwachen Erinnerungen. Kraftlos sagte er: »Aber ich habe ihn heute morgen geflogen.«

Es war ein Traum. So wie dies hier.

»Dann bin ich also verrückt?« Der Gedanke an das, was er in Draken-Korins Augen gesehen hatte, erschreckte Ashen-Shugar.

Du bist nur eine Erinnerung, sagte der andere. Dies ist nichts, nur ein Traum.

»Dann werde ich das tun, was geplant war. Ich nehme das Unausweichliche an. Es wird jemand kommen und meinen Platz einnehmen.«

Das ist bereits geschehen, denn ich bin derjenige, der kam, und ich habe dein Schwert und deinen Mantel genommen; deine Sache ist jetzt die meine. Ich bin aufgestanden gegen die, die diese Welt plündern wollen, sagte der andere.

Der andere, der Tomas hieß.

 

Tomas schlug die Augen auf und Schloß sie sofort wieder. Er schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen. Für Pug war er nur einen Moment still gewesen, doch der Magier vermutete, daß Tomas in diesem einen Augenblick viele Jahre durch den Kopf gegangen waren. Schließlich sagte Tomas: »Ich kann mich erinnern. Jetzt verstehe ich, was vor sich geht.«

Macros nickte. Zu Pug sagte er: »Das Schwierigste an diesem Paradoxon Ashen-Shugar-Tomas war, wieviel Wissen ich Tomas zugestehen durfte. Jetzt ist er bereit, sich der größten Herausforderung seines Leben zu stellen. Und Ihr ebenfalls, obwohl ich vermute, Ihr habt schon erschlossen, was er gerade erfahren hat.«

Leise erwiderte Pug: »Zunächst war ich verwirrt, als der Feind in Rogens Vision die alte Sprache der Tsurani sprach. Doch jetzt habe ich verstanden: Es war einfach die Sprache, die die Menschen zur Zeit der Großen Flucht über die goldene Brücke benutzten. Nachdem ich einmal vermutete, daß der Feind auf irgendeine Weise mit den Tsurani verbunden war, wurde mir alles klar, als ich über die Gegenwart der Eldar auf Kelewan nachdachte. Ich wußte, wem wir gegenüberstanden und warum Tomas die Wahrheit versagt wurde. Es war der schlimmste Alptraum, der lebendig werden konnte.«

Macros sah Tomas an. Tomas blickte zu Pug, und in seinen Augen stand tiefer Schmerz geschrieben. Ruhig sagte er: »Als ich mich zum ersten Mal an die Zeiten von Ashen-Shugar erinnerte, dachte ich ... ich dachte, ich müßte mein Erbe allein der Invasion der Tsurani wegen antreten. Doch das war nur ein kleiner Teil des Ganzen.«

»Ja«, stimmte Macros zu. »Da ist noch mehr. Nun kennt Ihr auch den Grund, warum mich ein Drache - ein schwarzer Drache, den man seit Generationen für ausgestorben hielt - bewachen konnte.«

In Tomas' Gesicht konnte man deutlich Zweifel und Sorge lesen. Niedergeschlagen sagte er: »Ich weiß jetzt auch, welches Ziel die Meister von Murmandamus verfolgen.« Er deutete mit der Hand in die Runde. »Die Falle war weniger dazu gedacht, Macros' Rückkehr nach Midkemia zu vereiteln. Vielmehr sollten wir hierherkommen, damit wir nicht im Königreich weilten.«

»Warum?« fragte Pug.

Macros sagte: »Weil Murmandamus in unserer Zeit gerade ein riesiges Heer versammelt hat und einen Feldzug gegen unsere Heimat führt. Während Ihr in der Ewigen Stadt nach mir gesucht habt, hat er die Garnison von Hohe Burg überrannt. Und nun will er ins Königreich ziehen. Er muß Sethanon erreichen.«

»Warum Sethanon?« fragte Pug.

»Weil diese Stadt zufällig über den Ruinen von Draken-Korins alter Stadt erbaut wurde«, antwortete Tomas. »Und in dieser Stadt liegt der Stein des Lebens.«

Der Zauberer sagte: »Wir sollten besser weitergehen, während wir diese Dinge besprechen, Pug, weil wir nach Midkemia und in unsere eigene Zeit zurückkehren müssen. Tomas und ich können Euch von Draken-Korins Stadt und dem Stein des Lebens erzählen. Das ist der Teil der Geschichte, den Ihr noch nicht kennt, obwohl Ihr den Rest schon wißt: Der Feind, über den Ihr auf Kelewan soviel erfahren habt, ist nicht ein einziges Wesen. Es ist die versammelte Macht aller Valheru. Die Drachenlords sind auf dem Weg nach Midkemia; sie wollen ihre alte Welt zurück.« Mit einem humorlosen Grinsen fügte er hinzu: »Und das müssen wir verhindern.«